Leonardos Weg zum Freilaufgetriebe

400 Jahre vor Fichtel und Sachs


Von Frank Hasters




Inhalt:

1. Codex Atlanticus fol. 30v

2. Codex Atlanticus fol. 945r

3. Codex Madrid I fol. 70v

4. Codex Madrid I fol. 20r

5. Codex Madrid I fol. 19v

6. Codex Madrid I fol. 21r

7. War Leonardo der Erfinder des Sperrklinken-Freilaufs?

Freilaufnabe mit Sperrklinke (Codex Madrid I, fol. 20r)


Einleitung

Leonardo da Vinci verblüfft oft mit Apparaturen, die man eigentlich für deutlich spätere Erfindungen hält. Sein Freilauf fällt ohne Zweifel in die Reihe solcher Ideen und Apparaturen. Er wird ihm bisher auch nicht als Erfindung zugeschrieben. Versucht man die Erfindung des Mechanismus zu datieren, führen Verweise im Internet zumeist auf den Dampfwagen des Nicolas Cugnot von 1769, dessen Freilauf noch recht primitiv erscheint1. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist in fast jedem Fahrrad ein Freilauf zu finden, der viel ausgeklügelter konstruiert ist. Er ermöglicht bekanntlich dem Fahrer eine Pause beim Treten. Ohne den Freilauf würden seine Pedale durch den Schwung der Räder weiter angetrieben. Die Erfindung bzw. Weiterentwicklung dieses Freilaufs, der zuweilen auch als Überholkupplung erscheint, wird gleich mehreren Ingenieuren zugesprochen. Sie fällt erst in die Zeit des späteren 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts2.

Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Kenntnis verbreitet hat, dass bereits Leonardo einen fast baugleichen Freilauf wie den unserer heutigen Fahrräder bzw. den der Firma Fichtel und Sachs gezeichnet hat3. Ein Grund für diese Unkenntnis scheint zu sein, dass die bekannten Entwürfe des Codex Atlanticus noch nicht ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt des Freilaufs angesprochen sind und andererseits die weiterführenden Zeichnungen in dem erst 1965 wiederentdeckten Codex Madrid I noch nicht die nötige Aufmerksamkeit gefunden haben.

Wichtig erscheint ferner die Frage, auf welche Weise Leonardo dazu gekommen ist, sich mit Freilauf-Konstruktionen zu beschäftigen. Nähere Gründe lassen sich dazu erst im Anschluss an die Einzeluntersuchung nennen. Allgemein geht sein Weg hin zu einer immer effektiveren Nutzung der vorhandenen Energie. Auch, da er früh begreift, dass diese endlich sein muss und kein Perpetuum Mobile eine endlose Quelle an Energie darstellen kann. In dem Maße, in dem er sich von diesen Illusionen verabschiedete, sie für abwegig erachtete, in immer drastischeren Formulierungen verurteilte und durch Rechnungen widerlegte (Madrid I fol. 147v-148r), scheint er Interesse für Fragen der Minderung von Reibungsverlusten gewonnen zu haben4. In diesen Rahmen gehören seine vielfältigen Bemühungen um verbesserte Getriebe und, wie wir sehen werden, auch solche Getriebe, in denen Sperrklinken und Freilauf eine notwendige Voraussetzung ihres Funktionierens bilden.

1. Codex Atlanticus fol. 30v

Die berühmteste Zeichnung einer Freilaufkonstruktion findet sich im Codex Atlanticus auf fol. 30v. Sie ist bisher freilich als solche noch gar nicht angesprochen worden. Vielmehr gilt diese Zeichnung als erste Explosionszeichnung der Technikgeschichte, als eine Zeichnung, die eine komplexe technische Apparatur perspektivisch in ihre Einzelteile zerlegt. Näher betrachtet haben sie vor allem Franz Maria Feldhaus in seinem dicht formulierten, 1913 erschienenen Buch über Leonardo als Techniker5 und neuerlich Mario Taddei im dritten Band des gemeinsam mit Massimiliano Lisa und Edoardo Zanon herausgegebenen Werkes "Leonardo dreidimensional"6. Es geht um einen Mechanismus, der die Hin- und Herbewegung eines Kipphebels umsetzt in die waagerechte Rotation einer Welle, auf der sich der Seilzug eines Gewichtes aufwickelt.


1) Codex Atlanticus, fol. 30v: Explosionszeichnung einer Seilwinde mit zwei Freiläufen.


Verdeutlichen wir zunächst den Ablauf, wie ihn detailliert als einziger Franz Feldhaus beschrieben hat:

Auf Blatt 8v b des Codex Atlanticus [heute 30v] entwirft Leonardo in sehr großem Maßstabe ein Zahnradgetriebe, durch das eine pendelnde Bewegung in eine dauernd drehende Bewegung umgesetzt werden kann. Links sehen wir den Mechanismus zusammengesetzt, während wir von rechts her die einzelnen runden Teile des Mechanismus erkennen, und darunter die Getriebeachse. Auf einer vierkantigen Welle sitzen zwei Scheiben fest. Jede dieser Scheiben trägt einen federnden Sperrzahn. Auf einem vorspringenden Kranz der beiden Scheiben und auf besonders aufzusteckenden flachen Scheiben A führen sich zwei Radkränze. Diese sind innen mit Sperrzähnen und seitlich mit Kammen versehen. Entsprechend der entgegengesetzten Stellung der beiden Sperrzähne laufen die Innenverzahnungen der beiden Radkränze in ihrer endgültigen Befestigung einander entgegen. Die seitlichen Zahnkränze dieser beiden Ringe greifen in eine Laterne, an deren Welle in unserer Skizze eine zu hebende Last am Seil hängt. Setzt man nun durch den am rechten Ende der Achse sitzbaren Hebel den vierkantigen Wellbaum mit den beiden inneren Scheiben in Bewegung, so greifen die beiden Sperrzähne abwechselnd in die eine oder die andere Innenverzahnung und der Wellbaum samt dem Gewicht wird andauernd in Drehung versetzt7.

Ausdrücklich vom Freilauf ist hier nicht die Rede, wohl aber von federnden Sperrzähnen. Der hin und her gehende Hebel treibt die innere Vierkantwelle an, sie verbindet die beiden großen vertikalen Räder. Beide Räder sind mit Nocken versehen, diese greifen permanent ein in einen zwischen ihnen liegenden Drehling (Laterne). Betrachtet man die Zeichnung ohne die Annahme der Freilauf-Lösung, drehen sich die beiden vertikalen Räder gleichzeitig in dieselbe Richtung. Das kann nicht gemeint sein, da der Drehling zwischen ihnen gelagert ist. Das eine Rad würde versuchen, ihn links herum zu drehen, das andere rechts herum. Die Apparatur würde blockieren.

Drei Dinge sind hervorzuheben: 1. Die Räder bestehen jeweils aus einer Felge und einer inneren Scheibe; 2. Die Felgen tragen ihre Zähne innen; 3. Auf den Stirnflächen der inneren Scheiben sitzen kleine Federn, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Die Räder erhalten ihren Antrieb dadurch abwechselnd aus den jeweiligen Gegenbewegungen des Hebels. Zieht man den äußeren Hebel, so treibt er die Vierkantwelle und damit auch die beiden inneren Scheiben. Doch nur eine Scheibe treibt jeweils auch ihre Felge. Die andere ist entkoppelt. Dadurch bewegt die angetriebene Felge den Drehling und veranlasst diesen, die andere Felge in Gegenrichtung seiner inneren Scheibe zu drehen. Stößt man den Hebel, funktioniert die Maschine entsprechend und der Drehling wird in die gleiche Richtung angetrieben. So erreicht man durch Ziehen und Stoßen des Hebels auf der Drehlingswelle eine dauerhafte Rotation in eine Richtung. Das Gewicht wird hochgezogen.

2. Codex Atlanticus fol. 945r, 170r und 1018v

Taddei und seine Koautoren verweisen für den Mechanismus des folio 30v im Codex Atlanticus auf die Möglichkeit eines Einsatzes in einer sehr bekannten anderen Maschine Leonardos, dem pedalgetriebenen Tretboot auf fol. 945r derselben Sammlung8. Kaum zu erkennen, aber zwingend notwendig, ist durch den Wechsel der Drehrichtung der Freilauf auch hier. Der Antrieb des Tretbootes - nur er ist im Zentrum der Seite dargestellt - erfolgt über zwei Pedale. Drückt man eines hinunter, so treibt ein Riemen den zentralen horizontalen Drehling an. Gleichzeitig zieht derselbe Riemen das andere Pedal nach oben. Der weitere Ablauf ist, nachdem man fol. 30v studiert hat, kein Geheimnis mehr. Die beiden großen vertikalen Räder enthalten den gleichen Mechanismus, zu erkennen an der separaten innen gezahnten Felge. Die Nocken sind diesmal nicht an den Felgen, sondern an den inneren Scheiben montiert. Diese greifen also in den zentralen Drehling hinein. Die mit Federn ausgestatteten Sperrklinken beider Räder müssen erneut in einander gegensätzliche Richtungen montiert sein. So überträgt der Drehling seine Kraft abwechselnd über das linke und das rechte Stirnrad auf die obere Schaufelradwelle. Die äußeren Paddel, die wie Flügel erscheinen, treiben das Boot kontinuierlich an9. Theodor Beck lieferte 1906 bereits folgende Beschreibung:

Hier wird die auf und niedergehende Bewegung zweier Fußtritte, die durch einen über ein Laternengetriebe gelegten Riemen miteinander verbunden sind, in hin und her drehende Bewegung dieses Getriebes verwandelt. Dieses greift in zwei einander gegenüber stehende Winkelräder, die mit einer wagerechten Welle durch Schaltwerke so verkuppelt sind, dass sie diese Welle nur in einer bestimmten Richtung umdrehen können. Die Winkelräder sind auch auf den Stirnflächen verzahnt und treiben, als Stirnräder, zwei Getriebe um, die auf der gemeinschaftlichen Achse der Ruderräder befestigt sind10.

3) Codex Atlanticus 170r: Offener Freilauf für pendelgetriebene Mühlsteine

 

4) Codex Atlanticus 1018v: Durch drückendes Seil ausgelöster Freilauf

Beck erkannte den Ablauf der Konstruktion korrekt. Ob er bei dem "Verkuppeln" bereits an einen Freilauf dachte, lässt sich nicht ausschließen. Man sollte im Auge behalten, dass der Freilauf als Begriff in der gelehrten Mechanik der Zeit um 1900 noch so gut wie keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er stand noch ganz im Schatten der Kupplung11. Erst die weitere Entwicklung des Fahrrades und, wie es scheint, die Reklame der Firma Fichtel und Sachs haben dies geändert12.

In aller Kürze sollen zwei weitere Zeichnungen im Codex Atlanticus angesprochen werden, die die Vielfalt der verschiedenen Einsatzmöglichkeiten verdeutlichen. So findet man auf folio 170r eine "offene Version" des Freilaufs. Dieser dient hier dazu die Kraft nur einer Schwungrichtung eines Pendels zu nutzen um Mühlsteine anzutreiben. Durch seine offene, oben liegende Bauweise, ist er besonders anschaulich.

Folio 1018v des Codex Atlanticus zeigt eine dem Freilauf zumindest sehr nahestehende Konstruktion. Umschlingt das Seil den zylindrischen Körper, drückt es eine Sperre nieder, die das äussere und das innere Element entkoppelt.

3. Madrid I fol. 70v


5) Codex Madrid I fol. 70v: Mühle für Einpersonen-Antrieb mit zwei Freilauf-Drehlingen.

Ähnlich gestaltet sich die Funktionsweise der von einer einzelnen Person mit Muskelkraft anzutreibenden Mühle, die der Codex Madrid auf fol. 70v zeigt. Der hier separat gezeichnete Drehling erscheint in unmittelbarer Verbindung mit dem Sägezahnrad und der Sperrklinke. Die Beischrift sagt: roche di molino che possano tornare indirieto / Mühlendrehlinge, die zurückdrehen können (nicht zurückgedreht werden, Übersetzung 1974). Dieser spezielle Freilauf-Drehling wird gleich ausführlicher beschrieben. Doch auch der Ablauf des Mühlengetriebes an sich macht einen bzw. zwei solche "Freiläufe" unumgänglich. Durch die Vorrichtung kann eine Person durch Auf- und Abbewegen der Hebel das Mühlwerk kontinuierlich antreiben. Eine detailliertere Beschreibung folgt demnächst in unserer Edition.



4. Codex Madrid I fol. 20r

Wie in den Erläuterungen und im Kommentar zur Edition bereits ausgeführt, bringt die Seite 20r im Codex Madrid den letztlich entscheidenden Erkenntnisfortschritt. Man erkennt oben eine ganz ähnliche Apparatur wie auf dem anschließend zu behandelnden fol. 19v, erhält ergänzend dazu aber auch zwei große Scheiben auf den Wellen der beiden Drehlinge. Vor allem erhält man Einblick in die innere Struktur der Drehlinge dank dreier Einzelzeichnungen. Die erste zeigt einen Drehling mit innerem Sägekranz und Freilaufnabe im Horizontalschnitt, die zweite den Aufsatz des Drehlings mit Innenverzahnung in perspektivischer Ansicht, die dritte eine Freilaufnabe mit Sperrklinke und Lagerkugeln auf dem Flansch. Auch der Text lässt an Klarheit nichts zu wünschen: "Auch wenn der Drehling (rocca) durch die Zähne des bewegenden Rades vorwärts gedreht wird (si volta inanti), kann sich die Welle, auf der er aufgesetzt ist, trotzdem zurückdrehen". Die weiteren Ausführungen beziehen sich auf das Material der Nabe (Stahl) und eine innen angebrachte Feder, die uns zurückführt zu der oben besprochenen Abb. 1 (Codex Atlanticus fol. 30v).

Die Abbildung 6a wirkt auf den ersten Blick wie ein Kugellager. Dieser Eindruck wird durch ein eindeutiges Kugellager auf fol. 20v noch verstärkt. Er täuscht jedoch. Betrachtet man sie genauer, so wird schnell deutlich, dass es sich um eine spezielle Variante eines Drehlings handelt. Die 8 kleinen Kreise entsprechen den von oben dargestellten Triebstöcken. Im Innersten befindet sich, als Quadrat dargestellt, die eigentliche Vierkantwelle. Auf diese ist eine spezielle Apparatur aufgesteckt, versehen mit einer Sperrklinke. Die quadratische Form der Welle dient zur Fixierung der Sperrklinken-Apparatur. Der Drehling ist innen gezahnt. Somit hat die Sperrklinke, unterstützt durch eine Feder, die Möglichkeit, in den Zwischenraum der Zähne einzugreifen und den Drehling samt Welle zu bewegen. Dreht sich die Welle jedoch im Gegensinn, so entkoppelt sie sich vom Drehling. Deutlich ist auch ein Kugellager zu erkennen, dargestellt durch drei stehende Kreise in der Abbildung 6c. Es erleichtert dem Drehling die von seiner Welle unabhängige Bewegung.

Eine Vorstudie bietet Codex Atlanticus fol. 830v. Da dieser Freilauf-Drehling äußerlich einem gewöhnlichen Drehling gleicht, ist er oft nur anhand seiner Funktion oder des angefügten Textes zu identifizieren.

5. Codex Madrid I fol.19v

Ein Sperrklinken-Freilauf ist auch auf Abb. 7 fol. 19v im Codex Madrid I zwingend vorauszusetzen und ein volles Verständnis nur im Blick auf fol. 20r möglich. Eine Kurbel treibt das vertikale Rad q. Dieses dreht das obere horizontale Rad b. Die Räder b und p sind durch eine Welle verbunden. Das Rad p wird über diese also ebenfalls zur Rotation gebracht. Ist der Eingriff von q in b vollzogen, greift q nun in p. Dies bringt die Räder b und p in umgekehrte Rotationsrichtung. Die Bewegung der beiden Räder alterniert.

Ein Fehler verhindert allerdings das Funktionieren dieses Getriebes. Denn würde der Eingriff q b vollzogen, träfe der Zahnkamm von p auf den von q auf der falschen Seite. Vermutlich würde das Rad q durchdrehen, p und b ständen dann still. Gelöst würde das Problem durch horizontale "Spiegelung" des Zahnradkammes von p (oder b), so dass die beiden Kämme der horizontalen Räder sich untereinander befänden (vgl. fol. 21r). Die Stirnräder sind korrekt platziert. Eine Positionierung der Kämme von p bzw. b auf der gleichen Seite, soll von hier an angenommen werden. Der Fall lässt vermuten, dass Leonardo diese Apparatur nur gezeichnet, jedoch nicht gebaut hat.

Die Stirnräder von b und p greifen dann permanent in ihre jeweiligen Drehlinge m und n. Sobald die Stirnzahnung endet, wechselt die Rotationsrichtung. Die Drehlinge m und n rotieren somit ebenfalls alternierend mit ihren Wellen a und f. Betrachtet man lediglich die Zeichnung auf fol. 19v, wird hier nur eine rotierende Bewegung in eine (auf zwei Wellen geleitete) alternierend rotierende Bewegung umgewandelt. Zieht man Leonardos Kommentar hinzu, so erkennt man die eigentliche Funktion der Konstruktion.

[...] Ora perchè le 2 rote inpolate in -a- -f- voltano a man sinistra, è neciessario che osservino il principiato inpeto, e cquel senpre seguitano. Ma le roche -m- -n- si voltano ne' lor poli, e ttornano indirieto, e llasciano andare le rote da lor mosse al principiato corso, insieme co' lor poli. E esse tornano indirieto colle rote -p- -b-, dalle quali quando son sosspinte, e quando tirate indirieto.

[...] Da sich die beiden Räder auf den Achsen -a-f- nach links drehen, ist es notwendig, dass sie dem anfänglichen Impetus gehorchen und ihm immer folgen. Die Drehlinge -m- -n- aber drehen sich auf ihren Wellen, drehen sich zurück und überlassen die von ihnen bewegten Räder ihrem anfänglichen Lauf, zusammen mit ihren Wellen. Und sie drehen sich zurück mit den Rädern -p- -b-, von denen sie bald gestoßen, bald zurückgezogen werden.

Aufschlussreich sind hier vor allem die Formulierungen "gehorchen dem anfänglichen Impetus" bzw. "überlassen die von ihnen bewegten Räder ihrem anfänglichen Lauf". Die Rede ist von zwei Rädern auf den Achsen a und f. Vermutlich sind sie wie bei Abb. 6 (fol. 20r) angebracht. Die scheinbar flüchtig gezeichnete Skizze ähnelt 19v sehr stark, ist aber zusätzlich mit zwei Rädern an den oberen Enden der Wellen a und f versehen. Zudem sind Lager an den unteren Enden dieser Wellen eingezeichnet.

Impetus in der Sprache Leonardos ist als eine Energie aufzufassen, die von den Rädern in der Antriebsphase akkumuliert, danach durch ihre fortgesetzte Rotation entzogen bzw. aufgebraucht wird. In anderem Zusammenhang kann man Leonardos Impetusbegriff stark vereinfacht auch als Beschleunigung auffassen13. Die Drehlinge wechseln jedoch, laut Leonardo, ihre Richtung, während sie die Räder und ihre Wellen ihrem anfänglichen Lauf überlassen. Man erkennt: der zitierte Abschnitt ist ohne den Einsatz des auf fol. 20r gezeigten Sperrklinken-Freilaufs nicht nachvollziehbar. Ohne ihn würde die Energie nur einer Drehrichtung auf die beiden vertikalen Wellen übertragen. Beim Wechsel der Richtung dagegen würde sich der Drehling ausklinken und so das Rad an seinem oberen Ende dem freien Lauf überlassen. Es kann also angenommen werden, dass bereits in der Konstruktion auf fol. 19v die Drehlinge mit einem Freilauf versehen sein sollen.

Auf fol. 20r (Abb. 8), einer flüchtigen Nachtragsskizze, ist noch zu beachten, dass, wie bei fol. 19v, einer der Zahnkämme der horizontalen Räder gespiegelt und zudem die volle Zahnung des Antriebrades in eine halbe Zahnung geändert werden muss.

6. Codex Madrid I fol. 21r und Paris B fol.72r


9) Codex Madrid I fol. 21r: Getriebe mit zwei Freilauf-Drehlingen.

Die Seite 21r im Codex Madrid I bringt eine weitere Variante. Hier wiederholt Leonardo den Fehler der falsch plazierten Zahnkämme nicht. Bekanntlich hat der italienische Leonardo-Spezialist Mario Taddei einige Visualisierungen der Konstruktionen Leonardos erarbeitet. In der Illustration zur Abbildung in fol. 21r ist der Freilauf allerdings nicht berücksichtigt. Das führt zur Annahme eines alternierenden Bewegungsablaufes, den Leonardo ebenfalls vielfach anwendet.14

Ein Gedankengang, der Handschrift B, der Leonardo in eher theoretischer Sicht beschäftigte, sei an dieser Stelle noch angefügt. Er verweist einerseits auf Leonardos Vorstellung vom Impetus und hat andererseits Aussagekraft auch im Blick auf den Freilauf: Er könnte auch Bezug auf die gerade behandelten Skizzen Codex Madrid I fol.19v; 20r und 21r nehmen, bei denen die Mühlsteine abwechselnd angetrieben und dann ihrem Schwung überlassen werden.

[...] Della natura del moto. Se una rota infuriata nel suo moto, poi che 'l suo motore l'abbandona, darà da sé molte volte, adunque perseverando esso motore il voltare in sopradetta velocità di moto, pare che essa perseverazione sia fatta di poca forza. E io conchiudo che a volere mantenere esso moto, che l motore sempre sarà di pari fatica, e tanto più che per natura si stanchera.

[...] Von der Natur der Bewegung. Wenn ein Rad im Lauf der Bewegung sehr schnell geworden ist, so wird es von selbst noch viele Drehungen machen, nachdem sein Beweger es sich selbst überlassen hat. Falls dieser Beweger es also bei der obengenannten Geschwindigkeit weiter dreht, scheint diese Fortdauer [der Bewegung] durch eine geringe Kraft veranlasst zu werden. Ich folgere, dass der Beweger, wenn er diese Bewegung erhalten will, stets nur eine geringe Leistung vollbringen muß, und zwar um so mehr, als er von der Natur aus (in seiner Bewegung) verharrt15.


10) Paris B fol. 72r: Ratsche zum Biegen von Eisenstäben.

Die Handschrift Paris B zeigt, nachdem zu Anfang auf den Freilauf im Fahrrad verwiesen wurde, die wohl am zweithäufigsten auftretende Verwendung des Freilaufs in der heutigen Zeit; der Ratsche. Ohne abzusetzen können mit ihr beispielsweise Schrauben angezogen werden, wobei das hier laute "Ratschen" die Entkopplung signalisiert. Zu finden ist diese Anwendung auf fol. 72r und auch auf den nachfolgenden Seiten könnte der Freilauf eine Rolle spielen, ist dort aber nicht in gleicher Klarheit abgebildet.


7. War Leonardo der Erfinder des Sperrklinken-Freilaufs?

Bei Leonardos Abbildung des Sperrklinken-Freilaufs auf fol. 20r fig. 1a-c, fällt die Verwandtschaft mit dem Schlagwerk einer Uhr ins Auge, das er auf fol. 12r zeichnet. Bei genauem Betrachten sind einige Unterschiede in der Konstruktion zu erkennen: Klinke und Sperre sind zwei verschiedene Bauteile, es wird mit einer Doppelwelle gearbeitet. Die eigentliche Wirkung entfaltet sich hier beim Entkoppeln von der Welle. Trotzdem kann vielleicht formuliert werden, dass das Prinzip des Sperrklinken-Freilaufs in der Uhrentechnik vorgegeben war. Apparaturen mit Sperrklinken sind dort häufig zu finden. Die Praxis, die Energie einer alternierend rotierenden Welle nur in einer Drehrichtung zu nutzen, ist klar davon zu unterscheiden. Leonardo war diese Praxis bekannt. Ob er auch der Erfinder des Sperrklinken-Freilaufs in dieser Form ist, kann allerdings noch nicht zweifelsfrei geklärt werden, da er häufig Gesehenes adaptierte.

Auch wann und ob der Freilauf Leonardos im 19. Jahrhundert erstmals erkannt wurde, ist unklar. Sowohl Grothe16 als auch Beck zeigen eine Skizze, die dem in Abb. 1 gezeigten Freilauf sehr ähnlich ist, ohne anzumerken, woher ihre Vorlage stammt17. Grothe identifizierte diese lediglich im herkömmlichen Sinne als Sperr-Apparatur. Beck hingegen erkannte die Möglichkeit, die innere Welle alternierend anzutreiben18.