Das ProjektDer Codex Madrid I von Leonardo da Vinci enthält die umfangreichste und thematisch geschlossenste Ausarbeitung des großen Florentiners zur praktischen und theoretischen Mechanik. Diese Ausarbeitung ist ausschließlich von Leonardos Hand geschrieben und bietet weit mehr als zufällige Notizen. Sie entspricht vielmehr dem Ergebnis langjähriger Überlegungen, Beobachtungen und Experimente im technischen Umfeld Mailands vor allem aus den Jahren 1492 bis 1495, bietet aber auch Weiterentwicklungen bzw. Neubearbeitungen vorheriger Entwürfe und enthält oft wesentliche Ideen zu nachfolgenden Verbesserungen. Andererseits ist das, was der Codex letzthin enthält, alles andere als ein abgeschlossener, systematisch voll durchdachter Traktat. Vor allem die theoretische Mechanik war noch nicht weit genug entwickelt. Lange war diese Handschrift (Madrid Biblioteca Nacional, ms. 9937) verschollen. Erst um 1965 gelang ihre Wiederauffindung in der Nationalbibliothek von Madrid. Zuvor kannte man Leonardos Studien zur Mechanik nur aus verstreuten Einzelaufzeichnungen seiner etwa 20 noch erhaltenen Notizbücher mit technischem Inhalt. Meist benutzte man nur die schönsten aus seinem Nachlass geretteten Zeichnungen, die des Codex Atlanticus in Mailand. Aus diesem Codex stammen u.a. der neuerlich von Mario Taddei rekonstruierte mechanische Löwe und Leonardos automatisch gesteuerter Bühnenwagen. Weitere Studien zur Mechanik, vermischt mit vielerlei theoretischer Materie, waren in eine ähnlich imponierende Sammelhandschrift gelangt, die zu Anfang des 17. Jahrhunderts durch Thomas Howard, Lord Arundel, aus Spanien nach England gelangt war (London British Library, ms. Arundel 263). Keine dieser Handschriften, auch nicht die frühesten unter den 12 Pariser Skizzenbüchern, bietet ein ebenso geschlossenes Bild von Leonardos Bemühen um die Grundlagen der Mechanik und um ein neues Verständnis von Maschinenbau wie der Codex Madrid I. Dies zu zeigen, ist ein wesentliches Anliegen der hier gebotenen Kommentierten Internetedition. Zuvor lohnt noch ein kurzer Blick auf die Editionslage: 1974 erfolgte die Erstveröffentlichung der beiden Madrider Handschriften durch den italo-amerikanischen Ingenieur und Technikhistoriker Ladislao Reti in fünf Bänden, wobei neben Retis englischer Übersetzung von Leonardos Texten gleich auch Übersetzungen in vier weiteren modernen Sprachen erschienen: italienisch, spanisch, französisch und - dank Friedrich Klemm und seinen Mitübersetzern - auch deutsch. Diese Ausgabe fand ein sehr beachtliches Echo. Sie bewirkte eine Neubelebung der Studien zur frühneuzeitlichen Mechanik und verstärkte das traditionelle Bild vom technischen Genius Leonardos. Hervorgehoben seien:
Unter den Internetangeboten ist die Biblioteca Leonardiana hervorzuheben, eine Veröffentlichung der Stadtbibliothek (Biblioteca comunale) von Leonardos Geburtsort Vinci, die auch unter den Bezeichnungen e-Leo oder Leonardo digitale läuft. Dort sind inzwischen außer den beiden Codices Madrid I und II auch der Codex Atlanticus, der Codex Arundel, die Codices Forster und die 12 Pariser Notizbücher zugänglich. Suchfunktionen und ein quellenkritisch erweitertes Glossar bringen besonderen Nutzen. Dem gegenüber beschränkt sich das Kmoddl e-book der Cornell University auf ein reines Facsimile, dem Transkription und Übersetzung der Texte Leonardos fehlen. Zuletzt erschien eine paläographisch genaue Transkription der Texte beider Codices Madrid durch die spanische Professorin Elena Ruiz Garcia (2011), die vor allem den Sprachwissenschaftlern willkommen sein wird, da Retis Text (den auch wir übernommen haben) die Orthographie normiert, um ein leichteres Verständnis zu ermöglichen. Bedarf es nach all diesen Bemühungen noch einer weiteren Edition? Wir meinen ja, da insbesondere der deutsche Sprachraum den Anschluss an die weit verstreute internationale Leonardo-Forschung zu verlieren droht. Vor allem aber fehlt die inhaltliche Analyse. Man schaue in einen der reinen Facsimile-Bände herein: Können wir dort die oft fremdartig wirkenden Konstruktionen ohne längeres Nachdenken und Suchen benennen und in ihrer Intention verstehen? Gelegentliche Befragung von Fachleuten der modernen Mechanik erbrachte ein erstaunlich dünnes Ergebnis. Die erreichten Erfolge dürfen also nicht täuschen. Von einem Verständnis der weit über tausend Zeichnungen Leonardos im Codex Madrid I bleiben wir ohne Kommentar noch weit entfernt. Etliche der schönsten und eingängigsten Maschinen oder Maschinenelemente sind zwar herausgezogen und immer neu abgebildet worden, doch die Arbeitsweise Leonardos und den Zusammenhang des Gesamtwerkes wie den Sinn der jeweils betrachteten Einzelskizzen verstehen wir nur schwer. Praktische Schwierigkeiten bei der Zusammenführung von Text und Bild kommen hinzu: Viele Seiten wirken auf den ersten Blick überladen und inhaltlich ohne Zusammenhang. Weder die Texteinträge noch die Kennbuchstaben der Zeichnungen sind in der Spiegelschrift des Originals leicht zu entziffern, und auch die Übersetzung der Beischriften verrät ihren Sinn nur im wechselseitigen Gegenüber von Bild und Text. Durch Analyse des Aufbaus jeder einzelnen Seite haben wir diese Schwierigkeiten zu überwinden versucht. Sowohl die Zeichnungen wie die Texte erhalten eine eigene Zählung, so dass der Kommentar sich eindeutig auf sie beziehen kann. Wesentlich bei der Analyse war die Unterscheidung der Ersteinträge Leonardos aus der frühesten Phase seiner Arbeit am Codex Madrid I (ca. 1493-1495) von seinen späteren Ergänzungen, so wie sie sich paläographisch deutlich von den größer und sorgfältiger geschriebenen Ersteinträgen abheben. Diese Nachträge sind in Retis Abdruck von 1974 nicht erkennbar. Sie werden im Kommentar im einzelnen angesprochen und, soweit es jetzt schon möglich erscheint, auch der jeweiligen Phase von Leonardos späteren Arbeiten zugeordnet. Bild, Text und Übersetzung unmittelbar zusammen zu bringen, war somit die erste Aufgabe der Neuausgabe. Wir setzen deshalb Kennzahlen, die Skizzen und Beischriften mit einander verknüpfen. Dazu erhält jede Zeichnung oder Zeichnungsgruppe eine möglichst adäquate Benennung. Die deutsche Übersetzung von 1974 wurde vor allem stilistisch geglättet und näher an die italienische Vorlage herangeführt, ihre Modernisierungen auf den Wortlaut zurückgeführt. Nennenswerte Missverständnisse der Erstübersetzung fanden sich nur in Ausnahmefällen, sie sind angezeigt. Der Sachkommentar, unser zweites Hauptziel, bringt Vorschläge für eine Einordnung in die technische Entwicklung der Zeit, vor wie nach Leonardo. Wir versuchen in zunehmendem Maße auch, dem intendierten Bewegungsablauf, der Kinematik von Leonardos Apparaturen, nachzuspüren. Dieses Bemühen führt unmittelbar ins Herz von Leonardos Anliegen. Es zeigt sich, dass Leonardo, lange vor Francis Bacons folgenreichem Primat der theoretischen Beobachtung, vor allem ein praktischer Beobachter war, aber auch ein unermüdlicher Theoretiker. Zur gründlichen Beobachtung zwingt er den Betrachter jeder einzelnen seiner Zeichnungen. Die zwölf wesentlichen Ziele dieser Internet-Edition sind:
Die sehr heterogenen Einträge der Einbandseiten fol. 0rv (Teil 1) und fol. 0rv (Teil 2) sind im Teil 3 der Edition zusammengeführt*.
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